Das vegetative Nervensystem: Wie es unseren Körper steuert (4. Teil)
Unser vegetatives Nervensystem ist ein unsichtbarer Dirigent, der viele lebenswichtige Funktionen in unserem Körper steuert – darunter Herzfrequenz, Atmung, Verdauung und emotionale Reaktionen. Doch wusstest du, dass es nicht nur zwei, sondern drei Steuerkreisläufe gibt, die unser Nervensystem beeinflussen? Die sogenannte Polyvagal-Theorie revolutioniert unser Verständnis davon, wie unser Körper auf Stress und Entspannung reagiert.
Sympathikus und Parasympathikus – Die klassische Einteilung
Lange Zeit wurde das vegetative Nervensystem in zwei Hauptsysteme unterteilt:
- Sympathikus (erregend) – aktiviert den Körper für Kampf oder Flucht.
- Parasympathikus (hemmend) – sorgt für Ruhe und Regeneration.
Doch dieses Modell greift zu kurz, um alle physiologischen Reaktionen des Körpers zu erklären. Besonders in Bezug auf Emotionen und soziale Interaktionen gibt es eine feinere Abstufung, die durch die Polyvagal-Theorie beleuchtet wird.
Die Polyvagal-Theorie: Ein Blick auf den Vagusnerv
Der Nervus vagus – der längste Hirnnerv – spielt eine zentrale Rolle in unserem autonomen Nervensystem. Er besitzt zwei unterschiedliche Äste mit verschiedenen Ursprüngen, Verläufen und Funktionen:
- Ventraler Vagus (myelinisiert) – entspringt aus dem Nucleus ambiguus im Hirnstamm, steuert unter anderem Herz, Lunge und Gesichtsmuskulatur und fördert soziale Interaktion sowie Entspannung.
- Dorsaler Vagus (nicht-myelinisiert) – stammt aus dem dorsalen motorischen Kern des Vagus, versorgt hauptsächlich die Organe unterhalb des Zwerchfells und ist mit Zuständen wie Erstarrung oder Ohnmacht verbunden.
Diese Unterscheidung zeigt, dass nicht jeder Entspannungszustand positiv ist. Während der ventrale Vagus für eine soziale und emotionale Regulation sorgt, kann eine Überaktivierung des dorsalen Vagus zu einem Rückzug oder einer Abschaltung des Körpers führen.
Drei Kreisläufe der Regulation
Basierend auf der Polyvagal-Theorie lassen sich drei Kreisläufe identifizieren:
- Ventraler Vagus – fördert Sicherheit, soziale Interaktion und Wohlbefinden.
- Sympathikus – versetzt den Körper in Alarmbereitschaft, steigert die Energie und fördert die Reaktionsfähigkeit.
- Dorsaler Vagus – löst bei Überaktivierung eine Schutzreaktion aus, die mit Erschöpfung, Rückzug oder sogar Erstarrung verbunden sein kann.
Warum diese drei Nervenkreisläufe im Alltag relevant sind
Die unterschiedlichen Spannungszustände dieser drei Kreisläufe sind nicht nur theoretisch interessant, sondern lassen sich auch praktisch wahrnehmen – sowohl in der Palpation als auch durch das subjektive Empfinden der Patienten. Diese Erkenntnis hat mich dazu gebracht, mich intensiver mit der Polyvagal-Theorie zu beschäftigen. In der Praxis zeigt sich, dass:
- Der ventrale Vagus-Modus mit einer ausgeglichenen Grundspannung korreliert, in der weder zu viel noch zu wenig Spannung im Körper vorhanden ist.
- Patienten mit einer erhöhten Spannung in den Strukturen oft im Sympathikus-Modus verweilen, was sich durch Unruhe oder eine gesteigerte Reaktionsbereitschaft äussert.
- Patienten ohne wahrnehmbare Spannung oft schwer einzuordnen waren – doch durch die Polyvagal-Theorie wird klar, dass dies auf eine Aktivierung des dorsalen Vagus-Modus hindeutet, was mit Rückzug oder Erstarrung einhergeht.
Was bedeutet das für unseren Körper?
- Menschen mit sympathischer Dominanz erleben oft Stress, innere Unruhe, Schlafprobleme und Verspannungen
- Dorsal-vagale Überaktivität kann sich in Antriebslosigkeit, Erschöpfung oder sozialem Rückzug äussern.
- Ein gut regulierter ventraler Vagus sorgt für emotionale Stabilität, ein starkes Immunsystem und ein allgemeines Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden.
Fazit
Die Polyvagal-Theorie zeigt uns, dass unser Nervensystem weit mehr ist als nur eine einfache Einteilung in Stress oder Entspannung. Es beeinflusst, wie wir uns fühlen, wie wir mit anderen interagieren und wie unser Körper auf Herausforderungen reagiert. Wer sein autonomes Nervensystem besser versteht, kann es gezielt beeinflussen und so mehr Balance und Wohlbefinden in sein Leben bringen.
Im nächsten Blogbeitrag gehen wir genauer auf den Symphatikus ein und erklären, welche Rolle er im Detail spielt.
